Max Lang
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Max Lang
In: Sero.Tone. Tone Fink und Max Lang. Weitra 2023

IN EINER VERLASSENSCHAFT


Sie, der wir Zeit
ihres Lebens
nicht nähergekommen waren,
lernten wir nun
in der wahnhaften Schrift
ihrer Briefe kennen.

In den wackeligen Zeilen,
die kreuz und quer
übers Papier liefen,
klagte sie an,
schwang sie sich auf,
urteilte sie ab,
und erkannte am Schluss,
dass ihr eigener Geist
sie betrog,
dass ihre eigene Nacht
nur noch wenige Worte
entfernt war.

In: Sero.Tone. Tone Fink und Max Lang

ETWAS


Es muss neben meiner Hand,
die nach dem Buch greift,
und der Zeit, die dabei vergeht,
noch etwas anderes geben,
das die Zeit umgibt
wie eine geschlossene Hand.

In: Sero.Tone. Tone Fink und Max Lang

HAUS MIT VORDACH


Ein totgeschnittener Strauch,
ein weißes Tor, eines alles
vernichtende Ordnung
zwischen Hauswand und Zaun.

Kennte ich den, der hier wohnt,
ich würde ihn fragen,
was dieser Streifen Wüste
hier mitten im Leben bedeutet.

Ö1 - Kunstgeschichten vom 27.2.2022

VOGELWEIDPLATZ

zum Bild „Felsenpinguin“ von Tone Fink

 

I

Er habe sich schon wieder den ganzen Vormittag lang überlegt, wie er mich ärgern könne, sagte er, als ich sein Atelier betrat. Aber leider sei ihm nur „fürstlicher Baron“ als neuer Spitzname für mich eingefallen, in Anspielung auf meine beiläufige Aussage, ich würde gerne in einem Schloss wohnen. „Der arme Schlucker in einem Schloss“, lachte er, absichtlich übertrieben, um mich nicht allzu sehr zu kränken. „Nehmen Sie Platz Herr Baron, ich komme dann schon.“

Plötzlich war er reumütig. Er sagte, er müsse aufpassen, mich nicht zu sehr zu verstimmen, sonst käme ich nicht mehr zu ihm. Und ich sei doch sein bester Zeitvertreib, die Zeit vergehe mit mir wie im Flug, niemand könne sich den ganzen Wahnsinn so lange anhören wie ich. „Du bist ja wirklich ein Geduldsesel mit mir.“ Ich hätte ja auch etwas davon, sagte ich, immerhin könnte ich ihn als Stoff für meine Geschichten verwenden. „Dann sollte ich dir ja noch was dafür verrechnen“, trötete er.

Aber es sei wirklich ein Problem, gestand er, denn vorhin habe er sich zum Beispiel sehr geärgert, dass ich schon wieder keinen Kaffee mitgebracht hätte, und das sei doch eigentlich völlig wurscht, aber es beschäftige ihn. „Gestern Nacht hab ich mir noch gedacht: Bringt der jetzt endlich einen Kaffee mit oder nicht?“ Er sei so kleinlich, klagte er sich an. Aber er sei wenigstens ehrlich. „Ich bin ein offenes Buch, in mir kannst du alles nachlesen.“

Er war gerade dabei, eine Serie von Tierbildern zu zeichnen. Er zeigte mir die ersten Entwürfe: „Schau, alles vom Aussterben bedrohte Arten. Ein Wahnsinn, was die Natur alles kann. Jede Taube ist schöner als wir. Und trotzdem besteht alles nur aus Säften, Knochen, Haut, Abfall und Scheiße.“ Er strich mit dem Finger über das Bild eines Fisches, der mit der Flosse ein Ornament in den Meeresboden schrieb. „Das würde ich auch gerne können“, sagte er. „Damit wäre ich viel besser bei den Frauen angekommen als mit meinen Stricheleien.“

Ich wünschte ihm viel Erfolg für sein neues Vorhaben. Ich wunderte mich, dass er plötzlich in naturalistischer Manier Tiere malte. Aber er würde bestimmt flunkern. „Wir lügen doch alle“, sagte er. „Künstler sind die größten Lügner, und Sie, Herr Baron, sind der schlimmste Lügenbaron auf der Welt“, sagte er. Dann setzte er sich an den Tisch und arbeitete, und ich wusste, dass es jetzt Zeit war, das Atelier zu verlassen.

Ich ging über den Vogelweidplatz, ein kleiner Park, in dem wir uns im ersten Lockdown oft getroffen hatten. Wir saßen auf einer Bank und beobachteten die Tauben. Die Männchen bewegten sich tänzelnd um die Weibchen. Er flippte fast aus: „Schau dir das an“, rief er. „Das gibts nicht. Wie der sich aufführt. Aber sie lässt ihn nicht. Er muss sich eine andere suchen.“ Die Pandemie schien ihm überhaupt nichts auszumachen. „Die Welt geht unter, und ich male Tierbilder“, sagte er. Immer sprang er von Gedanke zu Gedanke, von Bild zu Bild, von einem Bein aufs andere. Stillsitzen konnte er nicht. In der Pandemie sei alles erstarrt. Das „Krönchen“, wie er es nannte, hatte die Welt in einen Tiefschlaf versetzt. „Wenigstens muss ich jetzt nicht mehr auf irgendeine scheiß Vernissage gehen.“

Ich nahm mir vor, ihn bald wieder zu besuchen. Das Wetter war schlecht, die Lokale waren zu, die Pandemie hatte alles im Griff. Zuhause saß ich in meinem Arbeitszimmer und starrte den Bildschirm an. Ich beneidete ihn um seinen Beruf. Gerne hätte ich etwas anderes gemacht. Stattdessen tippte ich Worte in die Tastatur, die keinen Sinn ergaben.

 

II

„Der Stinkfink finkelt schon wieder am Tierblatt herum“, sagte er, als er wieder in einem seiner Sinn- und Unsinnsräusche war. Bei niemandem, den ich sonst kannte, lagen Genie und Irrsinn so nah beieinander. „Hickhackhuck, ich geb mir einen Ruck. Die Kunst ist doch kein Augenschmaus, heut scheiß ich meinen Dickdarm raus.“ Aber seine Bilder waren klug, ihre Harmonie immer ein Stück weit gestört. Es durfte nie zu schön sein. „Wenn es sich zu gut fügt, ist es schlecht. Man muss früh genug aufhören.“ Er überließ vieles dem Zufall. Oft drehte er die Bilder um und behauptete, hinten sähen sie besser aus als vorne. „Es darf nicht kitschig werden.“ Am liebsten waren ihm die Bleistiftzeichnungen, die fast auf dem Papier verschwanden. Man musste sich über das Blatt beugen, um das Gezeichnete zu sehen. In seiner Lieblingsfarbe Weiß löste sich alles auf. Die monochronen Bildtafeln, seine Malerei, waren das zweite Standbein neben dem Zeichnen: Reliefs, die an archaische Formen erinnerten. „Es ist immer schon alles dagewesen“, sagte er. „Ich hab mir ja vieles abgeschaut. Wie alle anderen auch.“

Ich wollte ihm von meinem momentanen Befinden erzählen, aber das interessierte ihn nicht. Es sei doch schön, für die Natur sei dieser Zustand das Beste. Niemand fliege irgendwohin, die Autos stünden still, die Leute blieben zuhause. Er sei noch nie so glücklich gewesen. Täglich gehe er hinaus, zum Vogelweidplatz, und mache Fotos von den wenigen Blumen, die vom Sommer noch übrig waren. Am Abend spreche er dann ein Gebet für seine Liebsten. Es war rührend, wie er sich in Gedanken um seine Familie und seine Freunde kümmerte. „Sooft ich mich über alle ärgere, sooft wünsche ich ihnen das Beste.“ Er lebte seinen Widerspruch permanent aus, vor allem in der Kunst. „Jetzt mal ich Tierbilder, damit die Leute endlich wissen, woher ich komme.“

Trotzdem hatte er Angst, man könnte ihn deswegen für einen Biedermeierkünstler halten. „Plötzlich malt der Fink Tiere ab. Dem ist die Pandemie zu Kopf gestiegen.“ Aber ihm sei das egal. Mit 77 Jahren dürfe er machen, was er wolle. „Und danach ist es sowieso wurscht. Nach mir die Sintflut.“ Ich fragte ihn, wer denn eigentlich seinen Nachlass aufarbeiten werde. Er habe jemanden im Blick, einen Kurator. „Der muss sich dann durch den ganzen Wahnsinn wühlen.“

Während er an seinen Tierbildern arbeitete, die sich allmählich um ihn auszubreiten begannen, stand ich vor fünf hohen Tafeln, die von unzähligen Farbzapfen übersät waren und die wie große Reliefs an der Wand hingen. Es waren seine Jahrzehntebilder, jede Farbsäule stand für einen Tag. „Warum machst du es nicht komplett? Es fehlen noch zwei“, fragte ich. Es sei ihm zu mühsam. Ihm fehle inzwischen die Präzision. Schicht für Schicht müsse die Farbe aufgetragen werden, damit jene Zapfen entstünden, die wie Stacheln aus der Leinwand herausragten. „Man muss ja nicht alles zuende denken“, sagte er und strichelte weiter an seinem Tierbild.

Mir gefiel die Idee. Aber ihn interessierte nicht, was einmal abgeschlossen war. Für ihn gab es nur die Gegenwart, vielleicht noch die nähere Zukunft. „Heute ist der schönste Tag in meinem scheiß Leben“, sagte er oft. Er war glücklich, wenn seine Tochter ihn besuchen kam. Seinen Enkel liebte er über alles. Wenn eine seiner Lieblingssendungen im Fernsehen kam, war er den ganzen Tag über aufgeregt. Auch bei jedem Fußballspiel, bei dem Österreich dabei war, ging es ihm so. Er war ein zufriedener Mensch.

Und er war frustriert. Sein Knie müsse noch einmal operiert, das künstliche Gelenk noch einmal geöffnet werden, erzählte er mir. Immerhin sei es kein bakterieller Infekt, das hätten die Ärzte nämlich befürchtet. „Bei jedem Schritt ein tiefer Schmerz, ich sags dir. Da wärst du längst wahnsinnig geworden. Wir Kriegskinder vertragen einfach mehr. Wir sind nicht so verweichlicht wie ihr Jungen.“

Das stimmte natürlich. Alle Probleme, die ich hatte, waren Luxusprobleme. Trotzdem überfiel mich manchmal grundlos die Angst. Es konnte im Zug sein, im Auto, in der Ubahn oder zuhause. Es fühlte sich an, als würde ich sterben oder verrückt werden. Er kannte das natürlich nicht. Selbst wenn, dann hätte er es nie zugegeben. „In Mexiko bin ich einmal überfallen worden“, erzählte er. „Der Kerl hat mir die Pistole an die Brust gesetzt und nach meinem Geld verlangt. Ich hab meine Hand auf den Lauf gelegt und ihm auf Bregenzerwälderisch erklärt, er solle das <Öfele> wieder einstecken. Dann ist er gegangen.“

Ich stand wieder vor den Jahrzehntebildern. „Ich weiß nicht, was du mit denen hast“, sagte er. „Das ist doch Geometrie, Mathematik. Eigentlich wäre es tot, würden sich die Zapfen nicht bewegen.“ Jedes neue Jahrzehnt war voller als das vorherige, trug eine schwerere Last, war dunkler, neigte sich stärker dem Boden zu. „Das ist eines deiner Hauptwerke“, sagte ich, aber ihn interessierte nur das Gefieder seines neuen Tierbilds.

„Ich werde einmal deine Biografie schreiben, hab ich dir das schon erzählt?“ Das freue ihn, und ich könne gleich damit anfangen. „Schreib, was du willst. Ich bin ein Kriegskind, mich kann nichts mehr schrecken. Nur zu, zieh mich aus, zieh mich an, der Fink ist kein Spielverderber und freut sich über deine Worte.“ Plötzlich fiel mir ein, dass ich, um seine Biografie zu schreiben, sein ganzes Leben durchforsten müsste. Dafür würde ich ihn stunden-, tage-, ja wochenlang interviewen. Ich sah zu ihm hinüber, wie er am Tisch saß, mit den Füßen wackelte, über das Blatt gebeugt, seine Zunge herausstreckte und seltsame Laute von sich gab. Mir schauderte. „Du könntest auch eine Autobiographie schreiben“, schlug ich vor, „du kannst mit Worten umgehen, das wäre bestimmt interessant.“

Für ihn war es aber beschlossene Sache. Ich verabschiedete mich eilig, und er hob kurz die Hand, als ich bei der Tür war. Bis morgen, sagte er, und ich überlegte, ob ich nicht ein paar Tage Pause einlegen sollte, bis er das mit der Biografie wieder vergessen hätte.

 

III

Leider vergaß er nie die Dinge, die ihn selbst betrafen. In den Tagen nach meinem Besuch bekam ich immer wieder Fotos von ihm zugeschickt, auf denen seine Notizbücher abgebildet waren, ein wildes Durcheinander von Gedanken, Bildern, Sinn- und Unsinnssprüchen. „Der Buchfink wurmt im alten Papier zu Buche und schaubuchobjektelt in weißer Bibliothek, nicht unumstößlich gipsern, mit eisernem Kern, rathäuslich!“, hieß es da. „Das Blendwerk nicht erblindend einblenden, tut gut. Die Erzbücherei mit Gegenbüchern zu bestücken, ist manchmal vonnöten“, und weiterer Unsinn, der jedoch immer mehr Sinn ergab, je öfter man ihn las. Ich antwortete, dass ich bald wieder vorbeikäme, und wir verabredeten uns auf den nächsten Sonntag.

Ich dachte an das Jahrzehntebild, an seine Klarheit, seine Haptik, sein Spiel mit Schatten und Licht. Das Bild wirkte eisern, fast steril, aber es hatte etwas Sakrales, vielleicht sogar Monumentales an sich, das mich sehr ansprach. Hier hatte er ausnahmsweise über den Papierrand geblickt, hier hatte er einmal zurückgeschaut und Bilanz gezogen. Es war eine Chronologie, vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des Jahrhunderts, fünf Jahrzehnte, die er mit Leib und Seele erlebt hatte.

Er hatte von Artmann über Jandl bis Mayröcker alle getroffen, die mit ihm artverwandt waren. Wenn die anderen Künstler ihn sahen, lachten sie, weil sie seine Erscheinung witzig fanden. Was er aber wirklich über Kunst dachte, über die anderen Namen, über Brus, Lassnig, Rainer, über die Gesellschaft, über das Leben, das alles verbarg sich hinter seinen Wortspielen, hinter seinen sprunghaften Gedanken.

Mir fiel eine Zeichnung ein, die ich nachmittags bei ihm entdeckt hatte und die schon relativ alt war. Sie zeigte einen großen Wagen mit vier Rädern, ein Fantasiegestell, daneben Blumen und Hufeisen, ein Hammer, Gräser, alles Reliquien aus seiner Kindheit. Sein Vater war Schmied gewesen, er wuchs in einem Dorf im Bregenzerwald auf, umgeben von Wiesen und Wäldern. Vielleicht muss ich seine Biografie anhand seines Werks erzählen, dachte ich, und mit dem Gedanken schlief ich zufrieden ein.

 

IV

Über Nacht hatte sich der Schnee in Matsch verwandelt. Der Vogelweidplatz war leer, als ich ihn nachmittags überquerte. Die Fitnessgeräte waren verwaist. Auf den Bänken lag Müll. Die Tauben waren ausgeflogen und über den Bäumen hingen schwere graue Wolken.

Ich machte mich auf alle möglichen Sticheleien gefasst, da er mehrere Tage lang Zeit gehabt hatte, sich welche auszudenken. Was würde eigentlich passieren, wenn er plötzlich damit aufhörte? Ich sah ihn vor mir, schweigsam, zuvorkommend, freundlich. Mir gefiel der Gedanke nicht. Er sollte sich in seinem Alter nicht mehr ändern müssen, jemand wie er hatte Narrenfreiheit, schließlich meinte er es ja nicht wirklich böse, auch wenn er immer das Gegenteil behauptete.

Die Tür stand offen, ich trat ein und sah ihn am Tisch sitzen. Eine seltene Stille ging von ihm aus. Beim Schein einer Lampe setzte er Strich für Strich behutsam auf das Papier. Er begrüßte mich freundlich und versank daraufhin wieder in seine Arbeit.

Um ihn herum lagen unzählige Blätter am Boden verstreut. Aus allen sprangen Tiere hervor, mit prächtigem Gefieder, riesigen Augen, mit langen Krallen, Zähnen und Stacheln. Ich setzte mich und erzählte ihm davon, welche Gedanken ich mir zu seiner Biografie gemacht, welche Vorgehensweise ich mir ausgedacht hätte, welche Werke vielleicht in Frage kämen. „Alles klar“, sagte er nur, ohne aufzublicken. „Ich bin einverstanden.“

Ich drehte eine Runde und schaute immer wieder zu ihm hinüber. Er lächelte, es störe mich ja nicht, wenn er arbeite? Ein Fingertier, das aus seiner Höhle kam, starrte mich an, als hätte ich es gerade aufgeschreckt. Auf einem Sessel fand ich eine Katze, die auf ihren ausgestreckten Krallen stand und mich anfauchte. In einen leeren Bilderrahmen hatte er einen Pfeilgiftfrosch gehängt, dessen Zunge gefährlich aus dem Blatt herausragte.

Ich setzte einen Kaffee auf und widmete mich seinen früheren Zeichnungen. Ich sah sie nach Themen durch, versuchte, ein wenig Ordnung in seinen Kosmos zu bringen. Während ich blätterte, hörte ich das Kratzen und Schaben seines Bleistifts auf dem Papier. Er murmelte etwas in sich hinein, und ich fragte ihn, ob er heute nicht in Stimmung sei für meinen Besuch. „Doch“, sagte er, „du bist doch mein allerliebster und größter Schatzhatzhatz.“ Es war unheimlich, ihn inmitten seiner Tiere zu sehen.

Ich verabschiedete mich, ich müsse noch einen Freund besuchen, dem es pandemiebedingt nicht gut gehe. Er schwieg. Ich trat näher an den Tisch heran, und noch immer nahm er keine Notiz von mir. Er zeichnete das Fell, die Augen, die Flossen. Unter seinen Händen nahm ein Pinguin Gestalt an, mit rotem Schnabel, bedrohlichem Blick. „Der Tierfink macht den Schnabelmund mit feuerrotem Pinsel rund“, zischelte er. Ich hatte genug, drehte mich um und ging rasch zur Tür.

Als ich aus dem Atelier trat, stieß er einen gellenden Schrei aus.

Hanser Akzente, 3/20

Ritzen

Auf ihrem Oberarm
die zarten Striche
früherer Kämpfe.

Edition OnePage Nr. 22

Was übrig blieb

An seinen Blick durch den Türspalt
erinnere ich mich noch,
an ein paar Worte, ohne die Stimme
im Ohr.
An einen Streit in der Küche.
An einen starken Arm,
der mich hochhebt.
An eine Hand,
nach hinten gestreckt
für den Sohn.

Uraufführung bei den Nibelungenfestspielen Worms, Juli 2018.
Auszug aus dem Stück.

Last Exit: Hunnenland

gunter nach einer kurzen Pause
Ach Kinder, wann passiert wieder
was Schönes, wann können wir wieder
fröhlich sein nach dieser schrecklichen Zeit?
Seit diesem Mord, ich weiß nicht, hab meinen
Übermut verloren, das Wetter war nur schlecht,
die Wolken ziehen zu, irgendwie war niemand
mehr lustig, seit Siegfried von uns gegangen ist,
es wär doch wieder an der Zeit, dass wir tanzen,
trinken, feiern, wär das nicht schön?
Kinder, was hatten wir es früher gut,
in Worms im Festsaal, die Gelage, die
Bälle, die schönen Kleider, seit Siegfrieds Tod
ist dieser Schatten über allem, können wir
nicht wieder ausgelassen sein? Tanzt, trinkt,
freut euch! Wir sind nicht mehr ewig jung,
sind eh schon alt, warum streiten, warum
nachdenken, warum sich den Kopf
zerbrechen, wenn wir es doch gut haben könnten?
Ein Schluck Wein jetzt, ein kühles Bier,
der Tag wäre so schön, Kriemhild,
lass deine Männer auftischen,
lass das Fest beginnen, los!
Tanzen, Freude, los!

kriemhild
Was für ein Mensch.

hagen
Ein Idiot.

gunter
Aber nein, nein, nein.
Niemand mag.
So macht das Leben
keinen Spaß.

kriemhild
Mir hat das Leben
lange keinen Spaß gemacht.

hagen
Immer dieses Nachdenken, Taktieren,
Grübeln.

gunter
Dieses Kopfweh!

Veröffentlicht in:
Mauerläufer. Literarisches Jahresheft. Ravensburg, 2017.

Der Herd

Die engsten Verwandten versammelten sich, um Abschied zu nehmen von dem alten Mann. Sie standen um den Toten herum, der auf sein Bett gelegt worden war, und begannen schon damit, sich über die Beerdigung zu beratschlagen.

Er war am Nachmittag gestorben. Er war ausgerutscht. Draußen war ein Schneesturm aufgekommen. Er hatte seine Einkäufe heimgeschleppt und war auf der Straße ins Wanken geraten. Der Notarzt hatte dann nur noch seinen Tod feststellen können.

Der Schneesturm hielt noch immer an. Es war nicht möglich, das Zimmer zu lüften. Über das Bett und über den Boden hätte sich der Schnee verteilt. Er hätte sich in der ganzen Wohnung verteilt und alles durcheinandergebracht.

Sie gingen in die Küche. Dort war es am wärmsten. Sie erinnerten sich an verschiedene Abende, die sie hier verbracht hatten. Mit ihrem König, wie sie sagten. Er war das Familienoberhaupt gewesen, meinten sie. Er hatte das Sagen gehabt. „Auch wenn er fast nichts gesagt hat.“ Aber er war dann doch immer derjenige gewesen, den man letztlich anrief und um Rat fragte.

Ein paar von ihnen, die in der Stadt wohnten, verabschiedeten sich. Sie waren jetzt nur noch zu viert. Der Schneesturm ging weiter. Er rüttelte an den Fenstern. Sie erinnerten sich an seine Vorliebe für dieses Wetter. „Im Sturm hat er sich am wohlsten gefühlt. Bei diesem Wetter hat er sich beruhigt. Da bin ich bei mir, hat er gemeint.“

Sie gingen nochmals zu ihm. Ein Fenster war gekippt, sie bemerkten es erst jetzt, sie machten es zu. Es war jetzt ganz still in dem Raum. Es war ihnen zu still, und sie gingen wieder.

„Er ist im Sturm ausgerutscht und hingefallen“, sagten sie, während sie die Schränke öffneten. Er hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass der Schnee ihn beruhige. Er verschluckt alle Laute, hatte er gesagt. Er deckt die Erde zu. Er beruhigt alles. „Er stimmt die Aggressiven milde und die Heimatlosen versöhnlich.“ Er sei das Beste, was den Menschen passieren könne.

Er war oft am Fenster gesessen, meinten sie. Er hatte zum Platz hinuntergeschaut, über den die Leute vor dem Schnee flüchteten. Sie duckten sich und wollten schnell in ihre Wohnungen hinein. „Das hat ihn fasziniert. An solchen Tagen hat er seinen Hut genommen und ist auf einen Spaziergang hinausgegangen.“

Es wurde ihnen auch in der Küche zu kalt. Sie schalteten den Herd ein.

Sie gingen durch die Wohnung und schauten, wo noch Fenster offen standen. Der Alte hatte auch im Winter die Fenster häufig geöffnet. Er hatte die Kälte gemocht. Sie erfrische den Geist, hatte er gesagt.

„Er hat die russische Musik am meisten geliebt. Tschaikowski. Tschaikowski sei nur in Russland möglich gewesen. Und außerdem hat er Schubert gemocht. Er hat die melancholischen Musiker gemocht“, sagte einer von ihnen.

Sie räumten ein paar Bücher, ein wenig Bettwäsche, Mäntel, seine Hemden und seine Krawatten auf den Boden. Sie lüfteten jede Schublade und kramten darin herum. Sie machten alles auf, was man aufmachen konnte. Nur die Fenster ließen sie zu. Wenn sie in sein Zimmer kamen, gingen sie plötzlich leiser und sprachen nicht mehr.

Der Wind rüttelte weiter an den Fenstern. Er wollte hinein. Er wollte durch die Wohnung fegen. Er wollte die Sachen des Alten durcheinanderbringen. Die Zettel, die Unterlagen, die medizinischen Befunde, die Notenblätter, er wollte das Cello wachrütteln, auf dem der Alte gespielt hatte – Schubert, Tschaikowski –, er wollte das Feuer im Herd löschen, an dem sich seine Verwandten zu wärmen versuchten, er wollte die Bilder festhalten, die an den Wänden hingen, er wollte sie einrahmen und für die Ewigkeit bewahren.

„Erinnert ihr euch?“, rief eine von ihnen aus dem Wohnzimmer. „Er hat die Schallplatten oft bis in die Nacht hinein gehört. Er hat Kopfhörer aufgehabt. Der Plattenspieler war eingeschaltet. Die Fenster waren geschlossen und er hat auf die Straße und den Hof hinausgeschaut. Er ist Stunden lang so dagesessen, und er hat sich nur bewegt, um die Platten zu wechseln.“

Der Tote lag jetzt wieder allein.

Sie hatten sich im Wohnzimmer versammelt. Sie standen zu viert um den Tisch herum und tranken jeder einen Schluck Kräuterlikör aus den kleinen Gläsern. „Den hat er uns immer eingeschenkt, wenn wir hereingekommen sind. Er hat gewusst, dass uns kalt war. Damit hat er uns aufgewärmt“, sagte einer.

Sie erinnerten sich, wie er am Fenster gesessen und Cello gespielt hatte.

Sie überlegten, was noch zu tun sei, und sie strömten wieder in die Zimmer aus.

Man hatte nun endlich eine Bestandsaufnahme seiner Sachen gemacht. Es war nicht so viel, wie sie gedacht hatten. Es war überschaubar. Man könnte es als Andenken aufteilen, sagten sie.

Der Herd wärmte die Küche, und im Wohnzimmer lief die Heizung auf höchster Stufe.

„Ich muss bald gehen“, sagte einer. „Wenn es so weiter schneit, ist die Straße bald versperrt. Mir ist außerdem kalt, ich fühl mich schwach. Hoffentlich werde ich nicht krank.“ Man stimmte ihm zu. Sie fühlten sich alle schwach und kränklich wegen des Sturms.

Als es ganz dunkel geworden war, schalteten sie auch die übrigen Lampen ein. In allen Zimmern brannte jetzt Licht. Im Zimmer des Toten brannte nur eine kleine Lampe auf dem Nachttisch.

Sie ordneten ihre Sachen, packten sie ein. Sie waren aus verschiedenen Landesteilen zusammengekommen. Sie trafen sich jetzt wieder im Wohnzimmer und fragten einander, in welchen Hotels sie wohnten. Sie plauderten, der Likör wirkte. Sie unterhielten sich über den Komfort in ihren Hotels. Es waren Mittelklassehotels mit drei oder vier Sternen. Manche priesen die Dreisternehotels. „Sie sind freundlicher. Es ist persönlicher“, sagten sie. Eine warf ein, dass Dreisternehotels meistens keine Sauna hätten. „Bei dem Wetter brauch ich das.“ Auch ihr stimmte man zu.

Sie machten eine zweite Flasche auf. Einer zog seine Füße auf die Sitzbank und setzte sich auf sie drauf. Eine andere lehnte an der Heizung. Das Licht warf einen Kegel über den Tisch, auf den sich ihre Blicke richteten. Sie sahen den roten Likör und die grünen Römergläser. Sie studierten die Aufschrift auf der Flasche und erzählten immer wieder Anekdoten aus ihrer Kindheit.

In den Gesprächspausen dachten sie an den Toten.

Einer überlegte, ob man ihn zudecken sollte. Aber er sprach den Gedanken nicht aus.

Eine andere überlegte, ob dem Alten die Hände gefaltet waren, wie es sich gehörte.

Der Dritte überlegte, ob man ihm das falsche Gebiss rausnehmen sollte.

Die Vierte dachte darüber nach, die Lampe zu löschen, die neben seinem Bett brannte.

Aber niemand sagte etwas.

Sie standen auf. Sie schauten nochmals in alle Zimmer, um sicherzugehen, dass die Fenster geschlossen waren. Am nächsten Tag würde man die Leiche abholen. Bis dahin läge sie allein im Zimmer.

Alle Lichter waren gelöscht. Sie standen jetzt zusammen vor der Tür, und einer sperrte sie ab. Der Wind rüttelte an den Fenstern des Treppenhauses. Er würde die ganze Nacht versuchen, in das Haus einzudringen.

Auf der Straße verabschiedeten sie sich schnell, und jeder von ihnen kämpfte sich in eine andere Richtung durch den Sturm.

Veröffentlicht in:
Literatur und Kritik. Salzburg: Otto Müller Verlag. September 2017.

Im Dorf

Das Dorf lag ruhig. Wenig Leute gingen spazieren.
Ich wollte noch einen Freund besuchen
Ich sah ihn von weitem in seinem Garten stehen

Als ich näher kam, ging er hinein
und öffnete ein Fenster.
Er winkte mir

und wie ich ankam, stand die Tür schon offen
und er führte mich in die Küche
gab mir etwas zu trinken und wir redeten.

Alte Straße

Tage, an denen alles möglich ist
wo die Straße so ausschaut wie damals
und die Leute zu erkennen sind
dieselben wie früher
und du die Gegenwart fühlst
den Abend
und die bevorstehende Nacht.

Heimweh

In der Stadt meines Großvaters
wurden die Pflastersteine entfernt
die Straßen wurden geebnet
das alte Holz verbrannt
und durch neues ersetzt.
In den Schaufenstern die Kollektionen
anderer Städte.
Ich sehe, wie er mit dem Hut
durch eine Gasse geht
hinkend, mit aufrechtem Blick.